Kullamannen 2025 - Sprint Ultra 100K
von Marcus Kohfeld

You can win if you want

Wenn man die Bedeutung des Begriffes “Sprint” im Duden nachschlägt, wird dieser als “Laufwettbewerb über eine Kurzstrecke” definiert. Der Deutsche Leichtathletikverband ist da etwas präziser: Gemäß DLV werden nur Laufstrecken bis 400m als Sprint bezeichnet.
In Schweden beim Kullamannen by UTMB ticken die Uhren ein wenig anders. Ich starte bei diesem Ultratrail auf der zweitlängsten Strecke, dem “Sprint Ultra 100K” über 108 Kilometer. 
Rund 2500 Läufer aus aller Welt bevölkern jedes Jahr den kleinen, schon im Winterschlaf gefallenen Küstenort Båstad, um sich auf einer der vier Strecken zu messen. Die schnellsten drei Männer und Frauen auf den langen drei Strecken erhalten dabei für nächstes Jahr den direkten Startplatz beim UTMB-Finale in Chamonix.

Am 31.10.25 um 20:00 Uhr geht es zunächst vom Zielort Båstad per Bus zum Startort Höganäs. Als drittletzter steige ich in den vollbesetzten Bus, um mich anschließend ausgerechnet neben einen Läufer aus Berlin zu setzen. Bei lediglich 11 deutschen Startern ein ziemlicher Zufall. Nach kurzem Smalltalk versuche ich noch ein wenig zu dösen, denn Start ist um 22:00 Uhr und jede Möglichkeit, sich im Vorfeld zu entspannen, möchte ich nutzen. Nach kurzem Race-Briefing in der dortigen Sporthalle geht es zum stimmungsvollen, mit zahlreichen Feuerkörben umrahmten Startbereich. 
Die gesamte Inszenierung mit Lasershow, die den Himmel in allen Farben leuchten lässt, laute basslastige Musik und einen Moderator, der uns Läufern das Gefühl gibt in eine mittelalterliche Schlacht zu reiten, ist so intensiv, wie ich es noch bei keinem Start erlebt habe. Um 22:00 Uhr wird es plötzlich still, die Kirchenglocken ertönen und der berittene Kullamannen erscheint mit einer Fackel in der rechten Hand vor der Startlinie. Ein kurzer Ruf und schon galoppiert er vorweg und gibt damit das Rennen frei.

Geronimo’s Cadillac

Die ersten 12 Kilometer bis Mölle zeigt sich die Strecke sehr zahm. Der zum Fernwandernetz Skåneleden gehörende Küstenwanderweg Kullaleden, verläuft hier entlang des Öresund auf flachen Asphalt- und Kieswegen. Jetzt bloß nicht von der Menge anstecken lassen und zu schnell angehen. In einem für mich sehr langsamen Dauerlauf versuche ich mein Tempo zu finden und kämpfe gegen den Zwang, an den vorbeiziehenden Läufern dranzubleiben. Viele der schnelleren Läufer werde ich später wiedersehen. Wenn ich jetzt überpace, werden Minuten, die ich jetzt vermeintlich gewinnen könnte, später Stunden sein, die ich verliere. Auf und neben der Strecke ist die Stimmung sehr gelöst. Besonders in der ersten Stunde finden sich immer wieder Zuschauer in Gruppen zum feiern und anfeuern zusammen. Die 80-Jahre-Fetenhits erklingt aus jeder Ecke und so dauert es nicht lange, bis Kullamannen den ersten Tribut von mir verlangt. Ausgelöst durch “Geronimo’s Cadillac” bestimmt bis zum Ende Modern Talking meine innere Playlist. Erst später werde ich verstehen, wovor mich Kullamannen warnen möchte.

Brother Louie

Nach Mölle folgt die erste von drei nennenswerten Steigungen und ich betrete das Reich des sagenhaften Kullamannen. Am Tag zuvor hatte ich die imposanten Klippen des 
Kullahornet bereits besichtigt und Kullamannen an seinem Grab um Wohlwollen gebeten. Der Sage nach wacht Kullamannen von seinem Kullaberg über die Gegend. Er ist hart aber gerecht und nur er entscheidet, wen er passieren lässt und wen er die Klippen hinunter stürzen lässt. Weiter werden ihm hellseherische Fähigkeiten nachgesagt und je länger die Nacht voranschreitet, desto mehr spüre ich seine Allgegenwärtigkeit. 
Der Anstieg und kurz darauf der Abstieg ist kurz, aber technisch anspruchsvoll. Der steinige und wurzelige Waldweg liegt verborgen unter Blättern. Im Schein der Stirnlampe besteht hier hohe Sturz- und Umknickgefahr. Das Feld ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit genug auseinander gezogen, so dass ich immer wieder in Stau gerate und nur mühsam überholen kann. Im Anstieg habe ich eine klare Stärke, wie schon in anderen Rennen merke ich, dass ich bergauf oft schneller als das Feld bin. Hier wird das für mich zur Geduldsprobe, denn ich könnte schneller, aber glücklicherweise ist dieser Abschnitt nur wenige Kilometer lang und ich erreiche nach 25 Kilometern den ersten Versorgungspunkt Svanshall.

You are not alone


Vor den Zapfanlagen für Wasser und Iso haben sich lange Schlangen gebildet. Kurzentschlossen lasse ich beide Schlangen hinter mir und steuere direkt die Cola-Station an. Dort schnappe ich mir sogleich eine Flasche, um sie in meine eigenen Softflasks umzufüllen. Einen Faltbecher voll Cola trinke ich sofort und einen Becher voll nehme ich mit. Dazu schnapp ich mir ne Handvoll Kekse und mache mich wieder auf den Weg. Das gleiche Spiel wiederhole ich an jedem der fünf Verpflegungspunkte. Insgesamt trinke ich über das Rennen verteilt rund 8 Liter Cola, 1 Liter Iso und einen halben Liter Redbull.
Auch die restliche Ernährung gleicht eher einem Kindergeburtstag als dem, was sich viele als Sportlernahrung vorstellen. Auf der anderen Seite schlägt aber auch der errechnete Verbrauch von 8000 Kalorien und 12 Litern Schweißverlust zu Buche.
Ganze vier Minuten dauert der gesamte Pitstopp, keine schlechte Zeit.
Das nächste Teilstück führt mich bis in die Stadt Ängelholm. Linker Hand höre ich das leichte Rauschen der Skälderbucht, ansonsten ist es bis auf die Schritte der Läufer totenstill. Es ist mittlerweile nach Mitternacht und das anfängliche Gerede ist vollständig zum Erliegen gekommen. Es ist frisch, aber nicht kalt, der Wind weht nur schwach und es regnet nicht. Für November fast ideale Bedingungen, Kullamannen meint es gut mit uns. Beim Rennbriefing meinte der Leiter, heute sei das schlechteste Wetter, das er beim Kullamannen je erlebt habe. Kälte, Sturm und Nässe gehören neben Dunkelheit zu Kullamannen einfach dazu. Auch wenn es nicht regnet, so bleibe ich von Nässe dennoch nicht verschont. Weit ausladende Pfützen zeigen sich auf diesem Abschnitt erstmals. Irgendwann ist es soweit und mir bleibt nichts anderes übrig, als durchs Wasser zu laufen. Nasse, durchweichte Füße sind die Nemesis jedes Ultraläufers. Meine Füße halten zum Glück, bis zum Ziel bekomme ich nur kleine Blasen an den Zehen und nichts, was mich groß beeinträchtigt. Während mich am Kullaberg noch die Läufer des eigenen Rennens blockiert haben, laufe ich ab hier vermehrt auf Läufer des 172 Kilometer-Rennens auf. Diese sind vier Stunden vor uns ebenfalls in Mölle gestartet, sind allerdings eine zusätzliche Schleife gelaufen. 

You’re my heart, you’re my soul

Nach 46 Kilometern bzw. nach 5:45 Stunden erreiche ich den zweiten Verpflegungspunkt in Ängelholm. An diesem VP erhalte ich auch meinen Dropbeutel, den jeder Teilnehmer abgeben konnte. In diesem befindet sich bei mir u.a. ein komplettes Set an Wechselklamotten. Ich begnüge mich mit einem trockenen Halstuch, meiner Eigenverpflegung für die restliche Strecke und dem planmäßigen Batteriewechsel meiner Hauptstirnlampe. Als Franzbrötchenliebhaber greife ich mir neben der obligatorischen Cola noch zwei schwedische Zimtschnecken und mache mich wieder auf den Weg.
Nach langer Zeit verlassen wir den Küstenwanderweg und durchqueren zunächst einen wurzeligen Wald, um anschließend über angenehm zu laufenden Parkwegen entlang des Flusses Rönne zum Hafen von Ängelholm zu gelangen. Die Halbinsel Kullen ist damit entlang der Küste abgelaufen, bleibt die zweite Halbinsel Bjäre.
Trotz tiefster Nacht funkeln uns hier im Hafen viele Lichter der Küste an. Passend dazu haben sich die Wolken gelichtet und lassen einzelne Sterne durchscheinen. Magische Momente. Überhaupt hat so ein Nachtlauf seinen ganz eigenen Flair. Die Einschränkung des Sehfeldes lässt die anderen Sinneseindrücke viel stärker erscheinen. Die Stille der Nacht, mit dem leisen Rauschen und dem Geruch des Meeres, lässt mich ganz in meine eigene Welt eintauchen. Das Abschweifen der Gedanken beruhigt und lässt mich Zeit und Strecke vergessen. Es dauert auch noch eine ganze Weile bis ich das erste Mal an die verbleibenden Kilometer denke. Leider schaltet sich auch immer wieder Modern Talking ein und spielt seine Greatest Hits ab. Dass das eine Warnung war, offenbart sich mir kurz darauf. Ich möchte über eine hölzerne Hängebrücke laufen, doch schon nach wenigen Schritten zieht es mir auf den rutschigen Brettern die Beine weg. Ich kann mich gerade noch halten, indem ich mich an dem Stahlseilgeländer festhalte. Mir bohrt sich aber schmerzhaft eine Schraube in die rechte Hand. Die körperliche Anstrengung bis hierher merke ich zwar, Schmerzen hatte ich bis jetzt aber keine. Wenn ich vor dem Rennen gewettet hätte, was und wann mir bei diesem Rennen das erste Mal weh tut. Der abwegigste Tipp wäre “Hand nach 60 Kilometern” gewesen. Kullamannen gibt und nimmt und es liegt an mir, die Zeichen zu deuten. Bis ins Ziel treffe ich immer wieder auf glitschige Bohlenwege. So langsam beginne ich zu begreifen.

Win the race

Der nächste Verpflegungspunkt Stora Hult ist schnell abgehandelt, als kurz darauf langsam die Natur erwacht. Noch vor Sonnenaufgang begrüßen als erstes die Krähen den neuen Tag, mit den ersten Sonnenstrahlen stimmen die Möwen mit ein. Nach über neun Stunden Dunkelheit ist das für mich ein Moment volles Glücks. Die Strapazen der Nacht sind überwunden, es wird merklich wärmer und die neu gewonnene Aussicht baut mich enorm auf. Der Glauben, dass ich dieses Rennen beenden kann, wächst in mir langsam zur Gewissheit. 
Rückblende: Ein Jahr zuvor wurde der schon länger bestehende Wunsch, in den dreistelligen Kilometerbereich vorzustoßen, konkret. Entscheidend für die Wahl war neben der terminlichen und finanziellen Realisierbarkeit, schlussendlich der flache Kurs in interessanter Landschaft. Der Kurs hat seine technisch schwierigen Stellen, verglichen mit alpinen Ultratrails ist die Strecke dennoch verhältnismäßig einfach. Die Hauptschwierigkeit stellt meiner Meinung nach die lange Dunkelheit und das erwartbar schlechte Wetter dar und weniger die Länge der Distanz.
Kullamannen gibt und er nimmt. Mit der Helligkeit tauchen ganz unerwartet neue Probleme auf. Die Streckenführung, die in der Nacht durch Reflektoren gut erkennbar war, ist im Hellen nahezu unsichtbar. Wir sollen zwar dem Wanderweg folgen, aber auch der ist nur mäßig und nicht immer eindeutig ausgeschildert. Nachdem ich mich zweimal verlaufen habe, stelle ich notgedrungen auf Selbstnavigation per GPS um. Mittlerweile meldet sich der Körper mehr und mehr zu Wort. Angefangen bei Nacken und Rücken wird jedes Körperteil auf Schmerzempfindlichkeit angetestet. In der IT nennt man sowas Modultests, was folgt sind Integrationstests, bei dem mehrere Module angesteuert werden bis zum finalen End-to-End-Test. Aber soweit sind wir noch nicht.
Verschont von Krankheit lief meine Vorbereitung sehr gut. Mich überrascht es daher auch nicht, dass ich nach über 70 Kilometern noch so gut laufen kann. Trotzdem: Ein Ultra ist immer eine besondere Herausforderung. Neben dem körperlichen Part ist gerade das Mentale nicht zu unterschätzen. Beides muss funktionieren. Wenn auch nur eines davon nicht ausreichend vorbereitet ist, ist so ein Ultralauf ein hoffnungsloses Unterfangen. Der lange Lauf durch die nicht enden wollende Dunkelheit ist sicherlich eine besondere Herausforderung. Selbst jetzt, im Nachhinein, bin ich mir immer noch unsicher, ob mir die lange Dunkelheit das Rennen erschwert oder erleichtert hat.

Atlantis is calling

Beim nächsten Verpflegungspunkt in Glimminge stoßen die 100-Meiler zu uns zurück auf die Strecke. Zuvor, in Stora Hult, haben sie unsere Strecke verlassen, um über eine große Schleife zusätzliche 50 Kilometer zu sammeln. Nachdem ich bisher das Feld der 100-Meiler überholt habe, überholt mich nun die Spitze dieses längsten Rennens.
Die Gegend am Ende der Bjäre-Halbinsel wird deutlich rauer. Der Weg ist häufig nur schwer auszumachen. Oftmals bleibt uns nichts weiter übrig, als uns querfeldein einen eigenen Weg zu suchen. Auf einer Pferdeweide freunde ich mich mit einem zutraulichen schwarzen Pferd an. Leider habe ich nichts zu essen für sie und ich muss auch weiter. Sie begleitet mich noch bis zu der Stiege, über die ich ihre Koppel verlasse. Nachdem ich mich etwas entfernt habe, höre ich hinter mir, wie zwei Läufer auf das Pferd einreden. Mit dem Kopf über der Leiter schaut es mir traurig nach und blockiert damit dummerweise den Weg. Mit Tierhindernissen habe ich Erfahrung. Normalerweise werde ich aber blockiert. Diesmal stelle ich die Blockade auf. 
Das Gelände, bleibt räudig. Überschwemmte Kuh- und Pferdewiesen mit großen Feldsteinen und glitschigen Bohlenwegen wechseln sich mit groben Geröllfeldern ab. Laufen ist hier kaum möglich. Auf einer Leiter über einer Mauer sehe ich Peter aus England sitzen. Er ist offensichtlich auf den rutschigen Steinen gestürzt, Blut rinnt ihm aus dem Schienbein. Ich frage ihn, ob er Hilfe brauche. Er versichert mir, dass alles ok sei, die Wunde blute auch schon gar nicht mehr. Eine Weile wandern wir gemeinsam, bis sich wieder jeder auf seine eigene Reise begibt. Bis ins Ziel begegnen und überholen wir uns noch mehrere Male. Überhaupt macht man sich langsam mit den Mitläufern vertraut. Nach einer gewissen Weile begegnet man immer dieselben Leute, das gilt auch für die anfeuernden Bekannten am Streckenrand. Im Gegensatz zu anderen Trailrennen finde ich jedoch, dass sich dennoch wenig unterhalten wird. Alles schwebt in einer angenehmen harmonischen Stille. Die nachgesagte Kühlheit der Skandinavier und die lange Nacht könnten ein Grund sein.

Cheri, Cheri Lady

Fast geschafft. Nach dem letzten Verpflegungspunkt bei Hovs Hallar sind es nur noch 17 Kilometer bis ins Ziel. Dafür wird es nochmal richtig trailig mit zwei Anstiegen. Dabei ist bergauf gar nicht das Problem. An Laufen ist bergauf eh nicht zu denken und Powerhiken geht noch sehr gut. Bergab ist eine andere Hausnummer. Der Körper schmerzt mehr und mehr und gerade das Abbremsen zieht durch den ganzen Körper. Auf den flachen Abschnitten nimmt trotz Asphalt mein Laufanteil stetig ab. Der Countdown hat begonnen und ich sehne mich nach dem Ziel. 
Auf dem flachen Abschnitt zwischen den beiden Anstiegen werde ich von einer Finnin überholt, die mir etwas Unverständliches zuruft. An der nächsten Rampe hole ich sie wieder ein und ziehe vorbei. “Wow, you look strong.” ruft sie mir nun auf englisch zu. Ich sage ihr, dass ich nur versuche meine Erschöpfung zu überspielen und in Wahrheit sie die starke von uns beiden sei. Denn schließlich läuft sie die 172km-Strecke und ist in dieser kurzen Zeit bereits kurz vor dem Ziel. Kurzerhand gehen wir den nächsten Kilometer bis zum Ende der Steigung gemeinsam. Dort muss ich die sympathische Finnin ziehen lassen, bergablaufen geht nur noch unter Schmerzen. Später erfahre ich, dass es sich bei der Frau um Profiläuferin Eevi Bengs von Team Altra handelt, die beim 100-Meilen-Rennen den dritten Platz der Frauen und den sechsten Platz der Gesamtwertung erreichen wird.
Der abschließende Downhill verlangt ein letztes Mal höchste Konzentration. Wieder versteckt das Laub die Steine und Wurzeln des Weges. Auch wenn ich hier nur gehe, ist ein Sturz jederzeit möglich. Nachdem der letzte querliegende Baum überklettert ist, bleiben nur noch die letzten paar Kilometer durch die prachtvolle Parkanlage Norrviken Trådgårdar und über die Uferpromenade zum Tennisstadion von Båstad. Überglücklich und erschöpft überquere ich nach 14:56:20 Stunden als 139. von 464 die von Kullamannen und seinem Pferd bewachte Ziellinie.

Daten:

Kullamannen - Sprint Ultra 100K
Start:     31.10.25, 22:00h
Länge:   108 km
Höhenmeter:   757m
Startort:   Höganäs, Schweden
Zielort:   Båstad, Schweden
Cut off:    aus organisatorischen Gründen
auf 28 Stunden verlängert 
(Veranstaltungsende)
Zeit:     14:56:20 Stunden
Platz:     139
Starter:   464
DNFs:     120